Keine Frage, das Theater für Oper und Ballett in Vilnius (1962–1974, Nijole Bučiūtė) und die Komische Oper in Minsk (1973–1981, Oxana Tkachuk), deren Bau- und Rezeptionsgeschichte Oxana Gourinovitch in ihrem Buch „Raising the Curtain“ erzählt, sind überaus beeindruckende Bauwerke der Spätmoderne in der Sowjetunion. Wie ein Märchenschloss aus Eis zeigt sich die Minsker Oper, nach außen, insbesondere aber im Inneren. Seriell komponiert, rational und klar ist das Erscheinungsbild der Oper in Vilnius, deren lichtdurchflutete Innenräume die Wärme des dunklen Holzes, roter Teppiche und goldener Leuchten ausstrahlen. Die großformatigen Farbfotos von Simon Schnepp und Florian Lamm, die in das Buch einführen sowie die von Sergey Pilipovich, die als Outro platziert sind, geben eindrucksvoll die Architektur und Atmosphäre dieser Gebäude wider. Zudem bieten sie eine seltene Möglichkeit, überhaupt einen Blick in diese beiden Opernhäuser werfen zu können. Die Architekturhistorikerin Oxana Gourinovitch richtete ihren Blick noch wesentlich tiefer in die Substanz ihrer Untersuchungsgegenstände. Ihr geht es um die Frage, wie die moderne Architektur am Selbstverständnis der „neuen Nationen“ Belarus und Litauen mitgebaut und es zum Ausdruck gebracht hat.

In ihren Recherchen in belarussischen, litauischen und ukrainischen Archiven und Bibliotheken rekonstruierte sie die Auftragsvergabe – wohlgemerkt an zwei Architektinnen –, die Planung und den Bau der beiden Theater und fokussierte dabei stets die politischen und kulturellen Geschehnisse, die in dieser Zeit in den beiden Sowjetrepubliken stattfanden. Bislang wurde die Nationenbildung in den Republiken der Sowjetunion kaum beleuchtet, insbesondere nicht der Beitrag der Architektur zu diesen Prozessen. Dabei, so stellt es Oxana Gourinovitch heraus, war es gerade die Formung der gebauten Umwelt, die die Nationenbildung voranbrachten und damit letztlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion wesentlich beigetragen haben. Am Beispiel der beiden Opernhäuser lässt sich dies exemplarisch, facettenreich und sinnlich nachvollziehen. Denn Opernhäuser sind nicht nur seit jeher eng mit den politischen Mächten eines Nationalstaates verbunden. Sie bieten auch den Träumen und Visionen einen Ort. (pk, 25.2.25)

Gourinovitch, Oxana, Raising the Curtain, Operatic Modernism and the Soviet Nations, Spector Books, Leipzig 2024, offen fadengeheftetes Softcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 400 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß, 20 x 29 cm, Englisch, ISBN: 9783959058025.

Vinius, Theater für Oper und Ballett – hier in einer Aufnahme von Felix Winkelnkemper, Aufnahmen von Simon Schnepp, Florian Lamm und Sergey Pilipovich finden Sie im Buch selbst (Bild: Felix Winkelnkemper, CC BY 2.0, 2022)

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